Den Wandel gestalten
Warum Gewerkschaften in Simulationsfabriken die Arbeit von morgen erproben
Roboter statt Handarbeit, Tablet und VR-Brillen statt Papier, Infrarotsensoren statt Gliedermaßstab. Die Digitalisierung hat im Laufe der Jahre in nahezu allen Bereichen der Arbeit Einzug gehalten. Einige wurden geradezu revolutioniert, darunter auch die Industrie, deren digitalisierte Evolutionsstufe mittlerweile als „Industrie 4.0“ gilt. Um diesem Entwicklungssprung nicht passiv zuzusehen, sondern die neue Arbeitswelt aktiv mitzuentwickeln, kooperiert die IG Metall mit dem Forschungs- und Anwendungszentrum Industrie 4.0 an der Universität Potsdam. Denn hier, in der vielseitigen Simulationsumgebung der cyberphysischen Modellfabrik, können Betriebsräte testen und erleben, wie sich Arbeitsplätze, -prozesse und -räume durch die Digitalisierung verändern.
„Vor fünf, sechs Jahren gab es eine relativ abstrakte Debatte über Industrie 4.0“, erinnert sich Julian Wenz, der bei der IG Metall Bildungsangebote für Betriebsräte organisiert und durchführt. „Es gab viele Meinungen dazu, aber kaum Erfahrungen. Und noch weniger Leute konnten erklären, wie sie sich auf die Unternehmen unserer Branche auswirken würde. Da war uns klar, dass wir einen praxisnahen Anwendungsworkshop dafür brauchen.“
Seit 2016 finden Seminare und Workshops zum Thema Digitalisierung im Bildungszentrum der IG Metall in Berlin statt – und, an einem Tag, in Potsdam-Babelsberg. Hier, nur einen Steinwurf von der geschichtsträchtigen Truman-Villa, in der der US-Präsident 1945 während der Potsdamer Konferenz logierte, befindet sich das Forschungs- und Anwendungszentrum Industrie 4.0. Der Wirtschaftsinformatiker Prof. Dr.-Ing. Norbert Gronau entwickelte die Anlage 2010 als virtuelle Fabrikanlage, in der mit wenigen Änderungen eine Schokoladenproduktion oder auch eine Joghurtfertigung simuliert und erprobt werden konnten. Im Laufe der Jahre haben Gronau und sein Team das Zentrum zur universellen interaktiven Lernfabrik und zum Industrie 4.0-Labor weiterentwickelt. Perfekt für den Workshop, der Julian Wenz vorschwebte. „Tatsächlich gibt es im Großraum Berlin-Potsdam nicht viele, die so etwas können: in einer variablen Simulationsumgebung die Möglichkeiten, Veränderungen und Herausforderungen der Industrie 4.0 vorführen – und das zum Anfassen und Ausprobieren“, so der IG Metall-Bildungsreferent. Die Vielseitigkeit, aber auch den besonderen Wert, der daraus entsteht, dass die Lernfabrik virtuelle Simulation und reale Arbeitsumgebung – mit Förderband und Werkstücken, sowie hochmodernen Sensoren, Schnittstellen, Ein- und Ausgabeelementen – verbindet, betont auch Dr. André Ullrich. Er leitet die Arbeitsgruppe „Nachhaltiger Wandel“ und koordiniert die Kooperation mit der IG Metall aufseiten der Universität. „Wir haben die Infrastruktur und die Kompetenz, um den Betriebsräten das vorzuführen und erlebbar zu machen, was viele bislang eher aus der Folienperspektive kennen.“
Entstanden ist die Zusammenarbeit aus einer Idee für ein gemeinsames Forschungsprojekt. Wenz und Gronau hatten 2016 den Gedanken entwickelt, die Integration neuer Technologien in die Industrie simulativ zu erproben und gleichzeitig zu untersuchen, welche Auswirkungen dies auf die unterschiedlichsten Ebenen von Arbeit hat. Der Workshop bot dafür die ideale Grundlage. Fünf- bis sechsmal pro Jahr kommen dafür Betriebsräte von IG Metall-Unternehmen aller Größenordnungen nach Berlin, um eine Woche lang die Möglichkeiten und Risiken der Digitalisierung ihrer Arbeitswelt zu diskutieren. „Im Zentrum steht dabei die Frage: Wie verändert sich die Arbeit im Zuge der Industrie 4.0? Und wie können Betriebsräte diesen Wandel mitgestalten, damit er nicht allein vom technologischen Fortschritt bestimmt wird?“, erklärt Wenz. Schon Tag 2 führt die Teilnehmenden nach Potsdam. Der Vormittag ist der Theorie vorbehalten: Die Uni-Forschenden führen in die Welt von Digitalisierung, Internet of Things und Industrie 4.0 ein. Am Nachmittag geht es dann in die Lernfabrik. „Anhand verschiedener, sehr praktischer Simulationen zeigen wir den Gewerkschaftlern mögliche Vor- und Nachteile neuer Technologien“, erklärt Ullrich. Roboter, VR-Brillen mit Sprachsteuerung, digitale Assistenzsysteme – hier werden sie in verschiedenen Lernszenarien eingesetzt. Dezentrale Produktionssteuerung, Mensch-Maschine-Interaktion, Störungsbeseitigung – Grenzen gibt es kaum. Bei einem der Beispiele zum „Selbermachen“ können die Werker „auf Probe“ in der Modellfabrik eine Maschine warten – mithilfe eines digitalen Assistenzsystems, das ihnen Hilfestellung gibt und eine Checkliste abarbeitet.
Gerade bei den ersten Workshops sei dies für fast alle eine Reise in die Zukunft gewesen, sagt Julian Wenz. Inzwischen habe der Anteil derer, die noch gar keine Berührung mit der Digitalisierung in der Industrie hatten, stark abgenommen. „Jetzt kommen viele schon mit Erfahrungen an bestimmten Systemen oder Techniken – und wollen konkret über diese sprechen.“
Auch das ist in Potsdam möglich. Wie die Erfahrungen und Hintergründe der Betriebsräte, so hat sich das Anwendungszentrum im Laufe der Jahre verändert. Ein Wandel auf beiden Seiten, schließlich steht auch die Entwicklung der Industrie 4.0 nicht still. Neue Technologien und Simulationen haben Einzug gehalten. Wo lange Zeit ein kleiner Industrieroboter stand, befindet sich heute eine sprachgesteuerte VR-Brille mit Schnittstelle zur Lernfabrik.
Beobachterrollen“, erklärt André Ullrich. „Ihre Eindrücke werden anschließend gemeinsam ausgewertet. Das ist für viele enorm hilfreich, um beurteilen zu können, wie sich die Technologien auf die Arbeit des Einzelnen auswirken.“ Begleitend geben die Teilnehmenden in Fragebögen Auskunft darüber, was sich in ihren Unternehmen derzeit verändert, welche Möglichkeiten Betriebsräte haben, diesen Wandel mitzubestimmen, – und wie die Digitalisierung wahrgenommen wird. Denn nicht alle Gewerkschaftler begegnen der Industrie 4.0 mit Begeisterung. Tatsächlich waren diese Befürchtungen ein wesentlicher Grund für Wenz, einen ganz praktischen Tag in das Wochenseminar einzubauen. „Im Forschungs- und Anwendungszentrum haben die Betriebsräte die Chance, zu sehen und zu erfahren, was im Zuge der Digitalisierung auf die Arbeitnehmer zukommt. Und sie gewinnen ein Verständnis dafür, wo Chancen und wo Risiken liegen“, sagt Julian Wenz. Ein erfolgreiches Konzept: „Eine verbreitete generelle Skepsis wie noch vor fünf, sechs Jahren nehme ich nicht mehr wahr. Inzwischen kommen viele mit dem Wunsch hierher, den Wandel aktiv mitzugestalten.“
Dass das Anwendungszentrum als cyberphysisches System, das schon heute konkret erlebbar macht, was in vielen Unternehmen erst noch Wirklichkeit werden soll, zugleich eine Brücke in die Köpfe der Menschen baut, betont auch Ullrich: „Es geht nicht nur darum, das, was technisch möglich ist, einmal selbst auszuprobieren“, erklärt Ullrich. „Viele bauen bei ihrem Tag im Anwendungszentrum auch Vorbehalte und Ängste ab und können sich anschließend besser und zwar inhaltlich mit den Veränderungen auseinandersetzen.“
„Der Tag im Forschungs- und Anwendungszentrum ist enorm wertvoll“, erklärt Wenz. „Denn an den praktischen Beispielen können wir mit den Betriebsräten in den Folgetagen der Woche all jene Fragen besprechen, die für ihre Unternehmen wichtig sind. Wie verändert sich die Arbeit durch den Einsatz neuer Technologien?“ Das ist eine wichtige Aufgabe dieses Tages im Anwendungszentrum: Die richtigen Fragen stellen und gemeinsam nach Antworten darauf suchen. Digitalisierung und Automatisierung innerhalb der Industrie 4.0 verändern nahezu alle Arbeitsplätze. Die meisten wandeln sich, einige fallen ganz weg, viele neue kommen hinzu. Diesen Prozess zu gestalten, ist die Aufgabe der Gewerkschaften. Die Forschung will ihn begleiten. Das Forschungs- und Anwendungszentrum Industrie 4.0 bietet dafür die besten Voraussetzungen.
© Matthias Zimmermann