Kleine Brille, große Wirkung
Warum AR-Brillen die Modellfabrik einen großen Schritt voranbringen und umgekehrt
Technik von morgen schon heute ausprobieren – am besten sogar so, wie sie später zum Einsatz kommen soll. Davon dürften viele Unternehmer träumen. Im Forschungs- und Anwendungszentrum Industrie 4.0 an der Universität Potsdam ist das möglich. In der cyberphysischen Anlage lassen sich problemlos Modellfabriken unterschiedlichster Art simulieren und auch hautnah testen. Dabei integrieren die Forscher um den Wirtschaftsinformatiker Prof. Dr.-Ing. Norbert Gronau immer wieder neue technologische Entwicklungen, um ihr Potenzial zu erkennen – und sie weiterzuentwickeln. Mit dabei ist seit einiger Zeit auch nxtBase. Das Start-up hat sich auf Augmented Reality (AR) spezialisiert und ein Eco-System für Smart Glasses entwickelt, das für zwei Dinge sorgt: freie Hände und immer die richtige Information im Blick.
Ein Arbeiter steht in einer modernen Fabrikhalle an einer großen Maschine, die Produktion läuft auf vollen Touren. Plötzlich leuchtet eine rote Anzeige auf, die Anlage stoppt und die gesamte Fertigungskette der hocheffizienten Fabrik kommt zum Stillstand. Der Fabrikarbeiter fasst sich an den Kopf. Jede Minute, die die Bänder stillstehen, kostet viel Geld. Doch keine Panik! Er rückt das Display seiner Smart Glass zurecht, ruft per Sprachbefehl die Wartungsliste der Maschine auf und arbeitet sie ab. Wenig später springt die Anzeige auf Grün, keine zehn Minuten nach der Unterbrechung läuft die Produktion wieder.
Ein Szenario wie dieses ist längst keine Zukunftsmusik mehr, sagt der Gründer von nxtBase, Jörg Jonas-Kops: „Wir haben ein System entwickelt, das im Wesentlichen auf dynamischen Checklisten basiert, die abgearbeitet werden und immer die richtigen Informationen aufs Display bringt. Dabei ist es egal, ob es um die Wartung von Maschinen, Lagerlogistik oder Produktionssteuerung geht.“ Pickinglisten im Lager, Wartungspläne oder Schritt-für-Schritt-Anleitungen bei Reparatur, Reinigung oder sogar Bedienung von Maschinen gehören dazu. Zukunftsweisende Technologie in den anspruchsvollen Industriealltag zu bringen, das ist das Ziel von nxtBase: „Wir verwenden keine schicken VR-Brillen, mit denen die Leute einmal cool durch die Halle laufen und die am Ende keiner braucht“, so Jonas-Kops. „Die Glasses müssen einen echten Mehrwert bieten.“ Das aktuelle Modell sieht aus wie eine Baseballkappe, vollgepackt mit Technik, und ist mit einem kleinen Display ausgestattet. Dieses ist kaum größer als ein Daumennagel und wird mit einem Bügel wie ein Headsetmikrofon heruntergeklappt und so unterhalb des Auges platziert, dass das Sichtfeld frei bleibt. Gleichzeitig wird die Displayanzeige ins Auge gespiegelt, sodass sich mühelos zwischen Sichtfeld und Display wechseln lässt. Das eigentliche Highlight ist aber, dass die Brille auf Sprachbefehle reagiert. Dadurch bleiben die Hände frei – ein gewaltiges Plus für den Einsatz der Brillen in der Industrie. Wurden bisher Tablets als Nonplusultra der digitalen Revolution gefeiert, könnten Smart Glasses die Informationen endgültig dorthin bringen, wo sie hin sollen: vors Auge. Das System hat sich bereits bewährt, wie Jonas-Kops stolz erzählt: unter anderem bei Airbus, wo Ingenieure in der Fertigungskontrolle eine 250-Punkte-Checkliste abarbeiten, oder beim Pharmariesen Pfizer, wo im Drei-Schicht-System die Produktionsanlagen gereinigt und umgebaut werden – und beides Schritt für Schritt dokumentiert werden muss. „Die Glasses müssen im Dauereinsatz präzise und zuverlässig funktionieren, nur dann sind sie industrietauglich.“
Für jeden Kunden werden die Brillen an die Prozesse und Aufgaben angepasst, in denen sie unterstützen sollen. Das Besondere bei nxtBase: Ihr System kommt – ganz wörtlich – im Koffer und muss nicht aufwendig in IT- und Infrastruktursysteme der Kunden integriert werden. „Das macht es den Kunden sehr viel leichter“, sagt Jonas-Kops. „So können sie die Brillen direkt in der laufenden Produktion testen.“ Doch was ist mit den neuen Prozessen, die zusammen mit den Smart Glasses integriert oder aufgebaut werden sollen? An dieser Stelle kommt das Forschungs- und Anwendungszentrum Industrie 4.0 ins Spiel. Denn hier lässt sich die nxtBase-Brille in quasi beliebig vielen Fabriken, Prozessen und Zusammenhängen ausprobieren. Auch solchen, die es noch gar nicht gibt. Entstanden ist die Kooperation aus einem Austausch über AR-Instrumente in der Industrie. Wenig später integrierten die Uniwissenschaftler das AR-System von nxtBase in das Anwendungszentrum. Was folgte, war Begeisterung auf beiden Seiten. „Das ist schon eine coole Hightechlandschaft“, sagt Jörg Jonas-Kops. „Die Kuben, die da herumfahren, das System, mit dem jedes beliebige Fabrikszenario simuliert werden kann. Das hat so noch keiner gesehen.“ Die Anlage wurde von Norbert Gronau und seinem Team 2010 in einem Forschungsprojekt geschaffen, mit dem Ziel, als virtuelle Fabrikanlage beliebig viele Produktionsabläufe virtuell erproben zu können. Das tut sie bis heute, aber inzwischen noch viel mehr. Mittlerweile dient sie als universelle interaktive Lernfabrik ebenso wie als Industrie 4.0-Labor.
Die Vorteile des Anwendungszentrums liegen für Jonas-Kops auf der Hand: Hier lassen sich verschiedene Szenarien simulieren, in denen die nxtBase-Brille ihre Stärken zeigen können. Will nxtBase einem Geschäftspartner die Funktionsweise seiner Smart Glass vorführen, können Jonas-Kops und sein Team dies an einem Ort – und zugleich komplex. „Wir haben die Brille in unser System eingebettet, sodass sie problemlos in verschiedensten Anwendungsszenarien getestet werden kann – im Lager, als Assistenzsystem bei der Wartung von Maschinen“, erklärt Dr. Sander Lass, der am Lehrstuhl von Prof. Gronau die Arbeitsgruppe Fabriksoftware leitet. Dabei können die Anwender nicht nur ausprobieren, wie die Brille benutzt wird, sondern auch, wie die Anbindung an andere Industriesysteme funktioniert. „Wir haben ein Showcase entworfen, in dem die Anwender ein Szenario durchlaufen, das für einen regelrechten Aha-Effekt sorgt“, so Sander Lass. „Maintenance mit Tablet war schon gut, aber eine Prüfliste an der Maschine nun über die Smart Glass per Sprachsteuerung abzuarbeiten, das entlockt den meisten ein ‚Wow!‘“
Außerdem liefert das Anwendungszentrum wichtiges Feedback von anderen Praxispartnern, die bei Schulungen – quasi nebenbei – auch die nxtBase-Brille auf Herz und Nieren prüfen: Ist die Sprachsteuerung in der Lage, Bayerisch zu verstehen? Funktionieren die Checklisten und Befehle zuverlässig? Ist die Hardware intuitiv bedienbar? Und nicht zuletzt: Wie muss die Smart Glass beschaffen sein und was muss sie können, damit die Nutzer sie akzeptieren und wirklich einsetzen? „Wir haben in Untersuchungen mit früheren AR-Brillen festgestellt, dass Modelle, die nicht alltagstauglich sind, nach 15 Minuten in der Ecke liegen“, so Sander Lass. „Das macht die Geräte zu einem teuren Missverständnis.“ Aus diesem Grund arbeiten Jörg Jonas-Kops und sein Team beständig daran, ihr System zu verbessern – und stehen dafür in engem Austausch mit den Herstellern der dazugehörigen Hardware. Kleiner, leichter, besser sollen die Brillen werden, um sie unverzichtbar zu machen. Einen wirklichen Schritt nach vorn bedeutete die Integration Sprachsteuerung, die mittlerweile bei nxtBase zum Standard gehört – und im Anwendungszentrum getestet wurde. „Wir verwenden vielleicht 40 Befehle – aber die in 15 Sprachen. Und ja, sie kann sogar Bayerisch“, sagt der Start-up-Gründer und lacht.
Inzwischen arbeiten nxtBase und UP-Wissenschaftler gemeinsam an der Weiterentwicklung des Systems. „Wir sind eine kleine Firma und haben keine eigene Forschungsabteilung“, erklärt Jonas-Kops. „Dank der Zusammenarbeit mit den Uni-Forschern können wir das wettmachen.“ Denn die Smart Glass soll immer mehr können: Eine Taschenlampe für die Inspektion von Maschinenteilen in dunklen Ecken? Kein Problem. Eine Kamera, die Fotos zur Dokumentation aufnimmt und auf dem Display einspielt? Erledigt. Sensoren, die per Bluetooth Temperatur, Längen und andere Daten in das System einspeisen? Schon Realität. „Wir stellen gemeinsam die Fragen, schauen, was gehen könnte – und probieren es dann direkt aus. Viel schneller, anwendungsorientierter kann Forschung eigentlich nicht sein.“ Aktuell arbeiten die Kooperationspartner daran, das System massentauglich zu machen. „Bisher verwenden viele unserer Kunden einige Glasses aus dem Koffer“, erklärt Jonas-Kops. „Aber irgendwann wollen große Firmen nicht eine, sondern 1.000 Brillen in ihre Systeme integrieren. Ein Traum! Aber auch eine Herausforderung, denn dafür brauchen sie ein Device Management, das erfasst und steuert, wer gerade welches Gerät benutzt, welche Daten von dort wohin gelangen sollen – und vieles mehr.“ Eine Lösung dafür wird gerade im Anwendungszentrum getestet. Ihre Zusammenarbeit in Forschung und Entwicklung stellen die Macher von nxtBase und die Wissenschaftler der Uni Potsdam nun auch auf offizielle Beine: in einem gemeinsamen, vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie geförderten Forschungsprojekt.
© Matthias Zimmermann